Barkai's Welt
es bleibt anders
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Geschichten
Gedankenflucht

Atemlos rennt das kleine Mädchen die Straße entlang.

Es läuft so schnell es nur kann, gehetzt, voller Panik, getrieben vom Adrenalinausstoß  einer schmerzhaften, tödlichen Gefahr hinter sich.

Die Augen tränenblind, die Lunge bei jedem Atemzug schmerzend, das Kleid zerrissen und die Füße unbeschuht auf  harter, kalter Straße,  läuft es um sein Leben.

Es kommt unverhofft an eine Bushaltestelle, an der gerade ein Bus wieder losfährt.

Seine allerletzten Kraftreserven mobilisierend legt es noch einmal an Tempo zu und schreit mit versagender Stimme: “Halt!“

Zum Glück hat der Busfahrer es im Rückspiegel gesehen und hält an. Zischend öffnet sich die Eingangstür. Das Mädchen wirft noch einen panischen Blick über die Schulter zurück in die Richtung, aus der es gekommen ist. Außer einer leeren Plastiktüte, die im Wind tanzt, ist da nicht zu sehen. Aufatmend stolpert es in den Bus, geht am Fahrer vorbei und will sich in einen freien Sitz fallen lassen.

Der Fahrer aber ruft: „Hey, wie wäre es denn mit Bezahlen?“

Erschöpft kramt das Mädchen in seiner Hosentasche nach ein paar Münzen und reicht  sie dem Fahrer mit zitternder Hand. „Eine Kinderfahrkarte zum Hauptbahnhof“ flüstert es erschöpft.

Der Fahrer sieht es mit großen Augen an, überlegt, ob er etwas sagen soll, sagt dann aber nichts, sondern tippt sich nur vielsagend an die Stirn.

Er reicht dem Mädchen einen Fahrschein, den es hastig an sich reißt, um sich dann endlich in einen Sitz fallen zu lassen. Der Bus fährt los. Das Mädchen hat die Augen geschlossen und verwehrt den Gedanken den Eintritt in seinen Kopf. „Nicht denken“ stammelt es leise. „Bitte, nicht denken!“

Ein paar Minuten später öffnet es die Augen und betrachtet den Fahrschein in seiner Hand. „Einzelbeförderung für einen Erwachsenen“ steht da drauf. „Frechheit“, denkt es, „aber mit Kindern kann man ja machen, was man will!“

Es blickt sich vorsichtig im Bus um. Er ist nur zur Hälfte gefüllt. Alle Fahrgäste machen einen müden Eindruck und blicken ausdruckslos vor sich hin.

 Draußen auf der Straße senkt sich die Dämmerung über die Straßen, die Autos und die vorüberfliegenden Häuser.

Wieder versuchen die Gedanken sich in den Kopf des Mädchens zu schleichen, und wieder unterbindet  es dieses mit einem energischen „Nein!“

 Es möchte diesen Zustand der friedvollen Leere nicht hergeben. Um zu verhindern, dass sich ungebetene Gedanken einnisten, stellt es sich schwere Rechenaufgaben, die seine ganze Konzentration erfordern und nichts anderem Platz lassen.

Der Bus hat die Endstation erreicht, und das Mädchen muss seinen vermeintlichen Schutz aufgeben und aussteigen. Sofort ist die Panik wieder zur Stelle und wie von Hunden gehetzt, läuft es in das Bahnhofsgebäude hineinüberlegen steigt es in den Zug und erstürmt ein leeres Abteil. Schwer atmend öffnet es das Zugfenster und inspiziert den Bahnsteig. Dem Hinweisschild entnimmt es, dass der Zug nach Hamburg fährt. Es spürt sein Herz bis zum Hals klopfen und fühlt sich plötzlich beobachtet. Rasch schließt es das Fenster und läuft zum nächsten WC, in dem es sich einschließt.Manchmal denke ich, deine Besessenheit  hat nichts mehr mit Vaterliebe zu tun!“

Es tritt an das Handwaschbecken und dreht den Wasserhahn auf. Ein müdes Rinnsal tröpfelt in seine Hände, und es beugt sich vor und befeuchtet  mit dem lauwarmen Wasser sein Gesicht. Der Seifenspender  verbreitet einen penetranten Geruch nach Kernseife. Einem Blitz gleich sieht es für Sekundenbruchteile zwei mit Seife eingeschäumte Männerhände. Es kneift die Augen fest zu,  angelt blind  nach einem Papierhandtuch und presst es gegen die Augen. Dann richtet es sich auf und blickt in den Spiegel.

Es erstarrt, und für einen Moment wird ihm schwarz vor Augen. Um es herum dreht sich alles und ein seltsames Rauschen erfüllt seine Ohren. Aus dem Spiegel blickt ihm das Gesicht einer etwa 30 Jahre alten Frau mit vor Angst weit aufgerissenen Augen entgegen!

Es wendet den Blick ab, sieht zu Boden, auf seine nackten Füße. Das Rauschen verstummt langsam, die Umgebung dreht sich langsamer. Nun schaut es abermals in den Spiegel, und die Frau erwidert seinen Blick. Langsam und zögerlich hebt es seine Hand und führt diese zur Stirn. Die Frau im Spiegel tut das Selbe. Das Mädchen dreht den Kopf zur Seite, die Frau ebenfalls. Es fährt sich mit der anderen Hand durchs Haar, die Frau auch. Die Frau im Spiegel hat eine zerrissene Bluse an, aus der deutlich die Träger eines Büstenhalters zu sehen sind. Das Mädchen fasst sich an den Hals, lässt die Hand langsam tiefer gleiten und ertastet  einen Träger auf seinen Schultern. Als habe es sich die Finger verbrannt, lässt es blitzschnell los und hält die Hand unter das Wasser. Mühsam nach Luft ringend versucht es zu verstehen, was da  passiert. Einer Ohnmacht nahe sinkt es auf den geschlossenen Toilettendeckel.

Die Gedanken bedrängen es wieder und wollen in seinen Kopf. Diesmal lassen sie sich nicht aussperren. Sie ergreifen Besitz von dem Mädchen. Laut sagt es zu sich selbst: “Ich heiße Sonja Lehmann, bin neun Jahre alt und gehe in die vierte Klasse der Heinrich-Heine-Grundschule. Ich wohne in Süderstadt, meine Eltern haben…“

Es bricht ab. Jetzt kommen die schwarzen Gedanken angerast, die es nie mehr denken wollte! „Nein!“ schreit es verzweifelt, aber die Gedanken sind jetzt viel stärker als das Mädchen. Ganz von selbst denken sie weiter, ohne, dass Sonja  irgendwas dagegen tun kann.

… „meine Eltern haben mich sehr lieb. Das heißt, Papa liebt mich. Er sagt, er liebe mich mehr, als sein eigenes Leben.

Und Mama …“

Noch einmal versucht Sonja verzweifelt, den Gedanken Einhalt zu gebieten, vergebens.

Am ganzen Körper zitternd hört sie ihre Mutter sagen:

„Es ist nicht Recht, wie sehr du deine Tochter vergötterst! Ich bin auch noch da, und du behandelst mich wie Luft! . Unschlüssig, wo es eigentlich hinlaufen möchte, landet es auf einem Bahngleis, an dem ein großer Zug steht. Ohne lange zu

Sonja springt von der Toilette hoch und schafft es gerade noch, den Deckel zu öffnen, bevor sie sich qualvoll übergibt.

Danach säubert sie sich  mit einem Papiertuch das Gesicht, vermeidet jeden weiteren Blick in den Spiegel und verlässt fluchtartig den Toilettenraum.

Sie rennt blindlings durch die Gänge des Zuges, rempelt dabei den einen oder anderen Fahrgast an und erntet neugierige bis missbilligende Blicke. Endlich findet sie ein leeres Abteil, schiebt die Tür auf und kauert sich ans Fenster. Sie zieht die eiskalten Beine hoch auf den Sitz, winkelt sie an  und stülpt  ihr Kleid darüber. Ganz klein macht sie sich. So klein, das niemand sie mehr sehen kann.

Draußen fliegt die Dunkelheit vorbei, und in ihrem Kopf hämmert ein Presslufthammer. Jetzt wird die Abteiltür erneut aufgeschoben und ein Schaffner schiebt sich herein. „Die Fahrkarte bitte“ sagt er mit ausdrucksloser Stimme und schwenkt Zange in der Hand, um die Karte zu entwerten. Fieberhaft durchsucht Sonja die beiden Taschen ihres Kleides und findet endlich eine Kreditkarte und etwas Bargeld.

„Ich habe es vorhin nicht mehr geschafft, mir eine Fahrkarte zu kaufen“ flüstert sie mit dünner Stimme. „Kein Problem, sie können hier nachlösen! Macht 23 Euro“, kommt die Antwort des Schaffners. Sonja drückt ihm alles Geld, das sie fand, in die Hand. Der Schaffner nimmt eine Fahrkarte aus seiner Umhängetasche, entwert sie und gibt sie Sonja zusammen mit  dem Wechselgeld. Er tippt sich noch kurz an die Mütze und verlässt das Abteil.

Er hatte „Sie“ gesagt. Warum nur? Sonja ballt die Hände zu Fäusten und spürt dabei schmerzhaft, wie der Rand der Kreditkarte in ihr Fleisch schneidet.

Das Mädchen  sieht sich die Karte genauer an.  Sie ist auf Sybille Lehmann ausgestellt. Sonjas Mutter heißt Sybille. „Wieso habe ich die Kreditkarte meiner Mutter bei mir“, fragt sich Sonja und die Panik verstärkt sich wieder. Der Zug läuft kreischend in einen Bahnhof ein.

Sonja springt von ihrem Sitz auf und verlässt schnell das Abteil. Sie eilt den Gang entlang zur nächsten Ausgangstür uns springt aus dem Zug, noch bevor dieser richtig zum Halten kommt.

Auf dem Bahnhof läuft sie einfach drauflos. Sie kommt an einen Ausgang und läuft weiter, auf die Straße. Sie spürt inzwischen ihre Füße nicht mehr, sie sind wie abgestorben. Sie irrt ziellos in der kleinen Stadt umher und  merkt plötzlich, wie sehr sie friert.

Völlig erschöpft lässt sie sich auf einer Parkbank nieder, die vor einer Kirche steht. Die Kirche ist hell erleuchtet und strahlt einen würdevollen Frieden aus. Magisch angezogen steht Sonja von der Bank auf und geht zur Kirchentür. Plötzlich fällt die Panik von ihr ab und ihr Schritt wird langsamer. Behutsam öffnet sie die schwere Eichentür und ein Schwall Wärme schwappt über sie hinweg und hüllt sie ein. Ehrfürchtig betrachtet das Kind die hohen, bunten Kirchenfenster und schreitet bedächtig durch das Kirchenschiff auf den Altar zu. Auf dem Altar stehen Dutzende brennender Kerzen, und beim Näher kommen erkennt sie im flackernden Lichtschein einen Mann, der mit dem Rücken zu ihr auf den Stufen kniet. Er scheint völlig in ein Gebet versunken zu sein. Zögernd nähert sie sich dem Mann, und irgendetwas an ihm kommt ihr seltsam vertraut vor. Sie betrachtet ihn eine Weile, dann streckt vorsichtig eine Hand aus und berührt den Mann zaghaft am Arm. Er dreht sich  zu ihr um und sie sieht, dass sein Gesicht von  Verzweiflung gezeichnet und von Tränen überströmt ist.

Auf einmal weiß Sonja, wen sie vor sich hat! „Papa“, flüstert sie atemlos, “was machst du denn hier in dieser Kirche?“ Sie schlingt ihre Arme um seinen Hals, froh, endlich in Sicherheit zu sein.

Der Mann stößt sie brutal von sich weg, so dass sie hart auf dem Kirchenboden fällt und sich beide Knie aufschlägt. „Papa!“ ruft sie verständnislos, “was ist denn? Warum tust du mir weh?“

„Warum ich dir wehtue, fragst du? Du Hexe! Du hast mir das Liebste genommen, was ich auf der Welt hatte!“ keucht der Mann atemlos und starrt sie hasserfüllt an. Dann richtet er sich auf.

 „Du hast meine Tochter umgebracht! Du verdienst es nicht, zu leben!“ schreit er durch die Kirche, dass es von den Wänden widerhallt.

„Aber, Papa, ich bin doch hier! Ich, deine Tochter Sonja!“ ruft Sonja mit tränenerstickter Stimme und sieht verzweifelt zu ihrem Vater hoch.

„Sybille, bist du   völlig übergeschnappt?“ schreit der Mann, „ bildest du dir  jetzt ein, unsere Tochter zu sein? Bildest du dir tatsächlich ein, nun endlich, nachdem du sie getötet hast, kannst du an ihre Stelle treten, ihren Platz einnehmen?“ Er schlägt die Hände vors Gesicht und schluchzt hemmungslos auf.

Sonja betrachtet verwirrt ihre Hände, ihre Füße, alles, was sie von sich selbst sehen kann und plötzlich kommen die Erinnerungen mit einer solchen Macht über sie, dass ihr die Luft zum Atmen genommen wird. Es ist, als sei sie mitten in einem tosenden Orkan, und der Sturm peitsche ihr mitten ins Gesicht.

Sie sieht sich selbst am Steuer ihres Autos, neben sich sitzt Sonja, ihre kleine Tochter, sie fahren sehr schnell auf einer Landstraße. Es ist später Nachmittag, es regnet stark und der Scheibenwischer kommt kaum dagegen an. Sybille ist müde und erschöpft. Und sie ist verzweifelt! Ihre Augen brennen von all den aus Verzweiflung geweinten Tränen. Sie hatte soeben erfahren, dass ihr Mann, den sie über alles geliebt hat, etwas Schreckliches getan hat. Er war nicht der treusorgende Vater, für den ihn alle Welt hielt. Er war ein Scheusal, ein Ungeheuer.

Sybilles ganzes bisheriges Leben ist an diesem Nachmittag wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen.

 Nach einem erbitterten Streit gelang es Sybille, mit der Tochter zu fliehen. Und dann war da plötzlich dieser Baum,  sie riss das Steuer herum, der Wagen überschlug sich und alles verschwand im Nebel.

Dann sieht sie Sonja auf dem Feld liegen, überall blinken gelbe und blaue Lichter. Da sind  Polizisten, die Fragen stellten, die Sybille nicht versteht. Wortfetzen fliegen durch die Luft und machen einen Bogen um Sybille.

Da ist ein Krankenwagen, in den sie einsteigen soll. Panik breitet sich in Sybille aus. Sie rennt los, lässt die ganzen Lichter und Menschen und Geräusche  hinter sich, und sie läuft und läuft.

Und jetzt ist sie wieder in der Kirche, findet sich auf dem Boden wieder.

Sie spürt einen heftigen Schlag auf ihren Kopf, fühlt warmes, klebriges Blut an ihrem Hals hinunterlaufen und sie sieht ihren Mann hoch oben über sich  stehen. Sein Gesicht gleicht einer u♦nsäglich hässlichen Fratze, die nichts Menschliches mehr an sich hat. Er hat einen Kerzenständer in der Hand und holt aus, um ein zweites Mal zuzuschlagen. Mit letzter Kraft rollt Sybille zur Seite und der Schlag geht ins Leere. Bevor der dritte Schlag sie trifft und alles endgültig schwarz wird, sieht sie noch, wie die große Kirchentür aufgestoßen wird und ein kleines, barfüßiges Mädchen in einem zerrissenen Kleid hereinstürzt.






 ♦

 

 

 

 

 

 

Das Ende einer Liebe

Die Tür fiel mit einem dumpfen Knall ins Schloss und sie war draußen.
Sie ballte wütend die Hände zu Fäusten und versuchte die Tränen, die unaufhaltsam ihre Augen füllten, zu verdrängen. Ihr Blick war verschwommen, sie biss sich auf die Lippen und wandte sich zum Fahrstuhl.

Mit einem sanften "Pling“ hielt dieser, die Tür öffnete sich automatisch. Peinlich berührt bemerkte sie, dass bereits zwei Männer in der Kabine standen. Sie blickte demonstrativ zu Boden, dachte, so könnten diese ihre Tränen nicht sehen, und drehte ihnen den Rücken zu.

"Das war es also", dachte sie verbittert. Das Ende einer großen Liebe, eines großen Gefühls.
Sie konnte es nicht glauben, was sie da eben erlebt hatte.
Sie hatte ihn, wie immer, nach Feierabend besucht, hatte etwas zu essen und eine Flasche Rotwein mitgebracht, um es sich mit ihm gemütlich zu machen.
Er war heute aber von Anfang an so merkwürdig gewesen.
Hatte keinen Appetit, rauchte entgegen seiner sonstigen Gewohnheit eine Zigarette nach der anderen und wich ihrem direkten Augenkontakt aus.

Zuerst versuchte sie das eiskalte Entsetzen, das sie packte, zu ignorieren, aber es gelang ihr nicht.
Es gab keine Vorankündigung. Nichts aus seinem Handeln oder Reden hätte sie darauf schließen lassen, dass ab heute alles vorbei sein sollte.
Sie plapperte verzweifelt munter drauf los, um ihn daran zu hindern, das zu sagen, was ihm ins Gesicht geschrieben stand.

Nach einer Weile, die er schweigsam rauchend auf seinem Bett sitzend verbracht hatte, sah er sie plötzlich an. Sie verstummte sofort, erwiderte
voll banger Vorahnung und mit angehaltenem Atem seinen Blick.

"Ich kann nicht mehr so weiterleben" presste er mühsam hervor.
Sie antwortete nicht, saß da und senkte den Blick auf den Boden.

Er inhalierte ein weiteres mal tief an seiner Zigarette, drückte sie dann angewidert, nur halb geraucht, im Aschenbecher aus.
Dann stand er auf, verschränkte die Arme hinter dem Rücken, und begann, in seinem kleinen Appartement auf und ab zu gehen. Es waren nur fünf Schritte vom Fenster zur Tür, es war ein winziges Zuhause.
Nachdem er diesen Weg dreimal zurückgelegt hatte, zündete er sich eine weitere Zigarette an.

"Ich möchte deine Liebe nicht mehr! Sie klebt wie Zuckerwatte!" stieß er fast wütend hervor.
"Du erdrückst mich! Ich halte es nicht mehr aus!"

Erschrocken sah sie zu ihm auf, sie spürte diese Worte wie Peitschenhiebe, mitten ins Gesicht!
"Aber, ich wollte doch nur...“"stammelte sie, mühsam um Beherrschung ringend.

"Nein, es ist aus! Ende! Vorbei! Ich kann nicht mehr! Ich ertrage deine Fürsorge nicht länger. Du erdrückst mich, du machst mich unselbstständig, ich will leben! Komme nicht mehr her, bleib weg! Bitte!"

Langsam und verwirrt erhob sie sich von seinem Schreibtischstuhl, zog mit zitternden Händen ihren Mantel an und sah ihn dabei die ganze Zeit wie ein waidwundes Reh an.
Er schob sie unsanft zur Tür und drängte sie hinaus.
"Ich bin 32 Jahre alt, es wird Zeit, dass ich mehr vom Leben habe als das hier! Bitte geh jetzt, Mutter!"
 

 

 



 






Ruhe sanft


Ja, du.
Du ruhst dich jetzt aus, da unten in deiner Grube, wo es modrig riecht.
Wo Würmer, Käfer und Spinnen durch die leeren Höhlen deines Schädels krabbeln.

Spürst du sie?
Ruhe sanft, meine liebe Freundin.
Lass dich nicht stören, wenn die Wurzeln der über dir wachsenden Gräser sich erst sanft und dann fest, mit unerbittlichem Zugriff in deinem Kiefer verankern.
Hörst du morgens, wenn die Sonne aufgeht, die du nicht mehr sehen kannst, das Geschrei der Vögel?
Hörst du ihr Wehklagen, ob der Mühsal des Tages, der auf sie wartet?
Lass dich durch sie nicht stören, denn du darfst ruhen...
Ach, fast beneide ich dich, wie du alle Pflichten und alle Mühsal einfach abladen duftest. Kein Schmerz, keine Traurigkeit mehr in dir, nur feuchte, dunkle, fruchtbare  Erde, die dich sanft und sicher in sich trägt.
Ich besuche dich ab und zu, lege dir eine Blume auf den Hügel, unter dem du jetzt ausruhen darfst.
Ich bin stets sehr leise und lege die Blume mit unendlicher Sorgfalt und Behutsamkeit auf dir ab, um deine Ruhe nicht zu stören.
Als du noch lebtest, war ich oft so laut, so rücksichtslos zu dir. Ich schäme mich dafür, dass du durch mich so viel Lärm erfahren hast.
Jetzt ist alles gut, du darfst ruhen.
Ruhe sanft, liebe Freundin, mach dir keine Sorgen um deinen Mann. Es geht ihm sehr gut, ich kümmere mich um ihn. Er lässt dich grüßen. Ich hauche einen leisen Gruß deines Mannes auf dein Grab.
Er kommt nie mit hierher, und du weißt auch, warum.
Er erträgt es nicht, dir wieder nah zu sein.
Er hat dir die Ruhe geschenkt, und er möchte sie nicht stören. Das verstehst du doch sicher, liebe Freundin?

Ruhe sanft, ich komme bald einmal wieder bei dir vorbei, um zu sehen, ob der Erdboden eingesunken ist, weil der Deckel deines Sarges verrottete.
Dann werde ich neue Erde aufschütten, ich sorge dafür, dass du es schön ruhig hast.
Jetzt muss ich gehen, weil dein Mann auf mich wartet.
Wir wollen uns einen ruhigen Abend zu Hause machen.
Ruhe sanft.

 

 

 

 

 

 

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